Foto © David Payr

geboren 1960, hat BWL studiert und seine journalistische Laufbahn als Sportjournalist bei der Süddeutschen Zeitung begonnen, danach war er Reporter beim STERN, freier Korrespondent in den USA und Chefreporter des Wirtschaftsmagazins brand eins. Seine Texte wurden mit diversen Preisen ausgezeichnet und waren für den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Deutschen Reporterpreis nominiert.

Waldherr hat 14 Bücher veröffentlicht und gilt als „Erfinder des emotionalen Sportjournalismus“ und der „literarischen Wirtschaftsreportage“. Über seine Reportagesammlung „Elvis ist tot“ (Kiwi) sagte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu: „Das beste Amerika-Buch, das keiner kennt“. Waldherr lebt mit seiner Familie in Berlin, als zweites Zuhause betrachtet er Neuglobsow am Stechlinsee.

Gerhard Waldherr liest aus Deutschkunde, erschienen bei der Kursbuch Edition.

Leseprobe

DEUTSCHKUNDE

„Früher, in der Volksschule des oberbayerischen Dorfs, in dem ich aufwuchs, gab es das Fach Heimatkunde. Eine Art Stadt, Land, Fluss, Kirche und Brauchtum für Anfänger. Jahrzehnte später wurden journalistische Dienstreisen zu meiner Deutschkunde. Zum ersten Mal lernte ich die Facetten Deutschlands kennen, abseits aller Klischees, an Orten ohne Kulissen und geschminkte Fassaden. An Plätzen, wo das Leben kondensiert und zu einer Wirklichkeit gerinnt, die keine noch so fette Schlagzeile und kein noch so ambitioniertes Video auf YouTube transportieren können.“

RIESA

Draußen, auf dem Parkplatz erdgas arena, werden alte Autoreifen abgeladen. Sie sollen zwei Tage später den Parcours markieren bei einer Veranstaltung, die sich „Langstrecken-Mopedrennen“ nennt. Ihr Reiz besteht darin, dass eine Horde Kleinkrafträder zwölf Stunden über einen Parkplatz knattert. Auf die Plätze, fertig und Vollgas mit 50 Kubik.
Drinnen, auf einer Empore mit Blick auf die Halle, steht Renate Kühne und beobachtet den Hausmeister. Er steht auf einer hydraulischen Leiter und montiert die Beleuchtung für einen Abiturball. Während der Hausmeister schraubt und verkabelt, schwärmt Kühne von ihrer tollen Arena, von wagemutigen Mopedfahrern und glücklichen Gymnasiasten. Und von den Kulissen, die neben den Tischen für die Abifeier stehen; sie sind von einer Fernsehshow übrig geblieben. Musikantenstadl oder so. Wo die Tribünen sind? Kühne: „Die haben wir gerade vermietet.“

SCHWEINE

Frank Karstädt sitzt im Jagdzimmer seiner Gaststätte Storchenbar. Karstädt ist der Bürgermeister von Alt Tellin. Man hat kaum Platz genommen, da sagt er schon: „Herr Straathof ist immer sachlich und korrekt aufgetreten.“ Er verteidigt den Mann, obwohl er noch gar nicht angegriffen wurde. An der Wand das Fell einer Wildsau zwischen Hirschgeweihen. Karstädt, von Beruf Koch, ist nervös. Er spricht leise, wägt jedes Wort ab. Seine Frau stellt Kaffee und Erdbeerkuchen auf den Tisch und setzt sich schweigend dazu.

Ständig kämen Reporter, klagt Karstädt. Allen erzähle er von den Vorteilen der Ferkelzuchtanlage: 30 bis 45 Arbeitsplätze; 20 000 Euro Gewerbesteuereinnahmen jährlich. „Ich bin der Bürgermeister, ich muss für die Finanzierung der Gemeinde sorgen, das geht nur über die Ansiedlung von gewerbesteuerpflichtigen Betrieben.“ Und dann führen die Reporter weg, zitierten ihn falsch oder unvollständig, verdrehten die Tatsachen und schrieben Artikel mit Überschriften wie „Schweinerei im Osten“. Karstädt sagt: „Das ist doch die Sauerei.“ Zwei Kundgebungen mit 300 Demonstranten gab es bereits in Alt Tellin, eine dritte braucht er nicht.

BIBLIOGRAPHIE

Auswahl

• Elvis ist tot – Auf der Schattenseite des amerikanischen Traums; Kiepenheuer & Witsch, 2002
• Bruttoglobaltournee – In 26 Reportagen um die globalisierte Welt; Salis, 2011
• Deutschkunde – Innenansichten einer Nation; Kursbuch Edition, 2017
• Die erste Reise – Weil sie den Blick auf die Welt, das Leben und auf einen selbst verändert – wie die erste Liebe; Reisedepeschen, 2020 (Hrsg.)
• 1000 Mühlen braucht das Land; Murmann, 2020
• Drive-by Shootings: Photographs by a New York Taxidriver (mit David Bradford); Könemann, 2001
• A DRUG FREE LAND (mit Thomas Kern); Edition Frey, 2010