Foto © Andreas Hornoff

veröffentlichte mehrere Erzählbände sowie den Roman Alle leben so und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommenene Romantrilogie Das Mädchen, April und Jahre später, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (2019) geehrt.

Angelika Klüssendorf liest aus dem bei Piper erschienenen Roman Vierunddreißigster September.

Textprobe

Hilde
Sieh mal die Blumen, wollte sie sagen, doch sie tat es nicht. Der Frost hatte das Fenster mit Eisblumen überzogen. Sie hauchte an die Scheibe, bis sie durchschauen konnte. Die Laternen warfen Splitter aus Licht, es war sechs Uhr morgens, der Dorfanger lag still da. Stille wie vor dem Weltende. Nur eine Taube hüpfte am Zaun entlang, ihr fehlte ein Fuß ; sie sah ramponiert aus und
fügsam, als wartete sie auf einen Habicht.
Sie hörte Walter rufen : Hilde, hast du meine Handschuhe gesehen ?
Obwohl sie sich nach über vierzig Ehejahren noch nicht daran gewöhnt hatte, dass er sie fragte, wo etwas lag – manchmal direkt vor seinen Augen –, blieb sie gleichmütig.
Hier, sagte sie und reichte ihm die Handschuhe, vergiss nicht den Arzttermin, doch da war er schon zur Tür hinaus. Sie folgte Walter durch den Garten.
Er drehte sich zu ihr um, sein Atem stieg in kleinen Wolken auf.
Vergiss nicht den Arzttermin.
Er nickte, holte das Moped aus dem Schuppen und fuhr los.
In der Küche räumte sie das Geschirr in den Spüler, öffnete das Fenster und atmete tief aus. Der bleiche Mond, wie angeklebt, da oben. Sie hörte die ersten
Autos starten. Die Bäuerin vom Mühlenhof wartete an der Bushaltestelle. Die Schriftstellerin ging mit ihrem Hund in Richtung Wald. Sie stand meist früh auf, doch es kam auch vor, dass sie erst mittags das Haus verließ, ramponiert wie die fußlose Taube. Hilde wusste nicht, ob sie die Schriftstellerin mochte. Leere Weinflaschen lagen verstreut in ihrem verwilderten Garten. Dann die laute Musik, oft bis zum frühen Morgen, und das Getrommel ihres Freundes. Ihn nannte sie nur den Trommler. Er war im vergangenen Sommer aufgetaucht, mit einer gelben Blume in der Hand, seitdem waren die beiden zusammen. Hilde wusste nicht, welchen Beruf er ausübte, aber er trommelte, wann es ihm in den Sinn kam. Ein großer, schöner Mann, Anfang fünfzig, Augen wie ein Husky.

Synopsis

Ein Dorf in Ostdeutschland: Walter, ein zorniger Mann, erschlagen in der Silvesternacht von Hilde, der eigenen Frau. Nur kurz vor seinem Ende war er plötzlich sanft und ihr zugewandt. Dann ein Friedhof: Die Toten studieren die Lebenden. Walter wird zum Chronisten, sieht sich dazu verdammt, die Schicksale im Dorf festzuhalten. Und er fragt nach dem Warum. Was war der Grund für Hildes Tat? Geschah es aus Hass oder aus Barmherzigkeit?

„Vierunddreißigster September“ wurde kurz nach Erscheinen von der Literaturkritik auf Platz 1 der SWR-Bestenliste gewählt. Aus Angelika Klüssendorfs Sprache strahlt eine mitreißende Kraft, sie ist präzise und voll tiefschwarzer Komik. Ein hintersinniges Meisterwerk über eine Zeit der Wut, Melancholie und Zärtlichkeit.